"Haben Sie keine Angst vor Künstlicher Intelligenz!"
Forecasting mit Künstlicher Intelligenz (KI) – Erfahrungen aus der Praxis
- Forecasting mit KI kommt bereits heute in vielen Bereichen zum Einsatz, so z.B. bei: Vorhersage der Churn-Rate, Weeks of Inventory, Price Optimisation oder auch Demand Forecasting & Planning
- Die Entwicklung dieser Modelle ist weniger komplex als angenommen und doch existieren etliche Stolpersteine
- Vorbehalte beim Einsatz von Machine Learning respektive Artificial Intelligence sind weniger technologischer Natur, sondern vielmehr eine Frage des richtigen Mindsets
Dr. Stefan Ebener
Manager Customer Engineering Specialists, Machine Learning
Google Germany GmbH, Frankfurt a.M.
3 Fragen an Dr. Stefan Ebener
Wie schwer tun sich Menschen, wenn KI in ihr Arbeitsleben tritt? Was sind die Hauptgründe für Vorbehalte oder gar Ablehnung?
Ebener: Es ist die Unsicherheit, ein schwieriger Zustand für unser Gehirn, der unsere rationale Denkweise beeinflussen kann. Diese Unsicherheit und der Widerstand gegen Veränderung sind zu großen Teilen der Furcht vor dem Verlust von Sicherheit oder Kontrolle, Kompetenz und Anerkennung sowie von Beziehungen geschuldet. Hauptgründe für Vorbehalte oder gar Ablehnung lassen sich also am ehesten damit verbinden.
Der überwiegende Teil von uns arbeitet jedoch bereits heute mit Anwendungen, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind. Die meisten von uns wissen schlichtweg nicht, dass künstliche Intelligenz sie in ihrem Tun und Handeln unterstützt. So wird mein Gmail-Account von einer künstlichen Intelligenz organisiert und bietet mir für jede E-Mail drei Textbausteine als kleine Buttons an, um in wenigen Sekunden eine Antwort zu versenden. Schreibe ich eine ausführlichere Mail, komplettiert das System meine angefangenen Sätze und versteht dabei sogar den Kontext. Noch nie in meinem Berufsleben habe ich so schnell E-Mails beantwortet – geschweige denn geschrieben.
Gleiches gilt bei dem Einsatz von KI in vielen anderen Arbeitsbereichen. Der gefühlte Verlust von Sicherheit und Kontrolle, das Ignorieren des eigenen Bauchgefühls, verleiten zu Vorbehalten und der Wahrnehmung von Risiken, wo eigentlich Vorteile und Chancen deutlich überwiegen. Wie so viele technologische Entwicklungen in den vergangenen 75 Jahren – der Fernseher, das Internet, das Smartphone – ist der Wille zur Offenheit gegenüber neuen Technologien der Schlüssel zur Zukunft.
Was ist der größte „Stolperstein“ beim Forecasting mit KI?
Ebener: KI-gestützte Forecasting-Systeme haben ihre ganz eigenen Herausforderung und sollten insbesondere im Finanzsektor nicht ohne ausgeprägtes Marktverständnis eingesetzt werden. Um in das Thema einzusteigen, sollte man sich u. a. mit den folgenden "Stolpersteinen" auseinandersetzen:
1. KI ist mehr als neuronale Netze: Data Scientists neigen dazu, Problemstellungen direkt mit neuronalen Netzen lösen zu wollen. Neuronale Netze sind mächtig, hipp und haben den Ruf quasi alles lösen zu können. Allzu oft wird dabei vernachlässigt, dass neue Problemstellungen zunächst mit einfachen, nachvollziehbaren Modellen angegangen werden sollten. Damit lässt sich auch die Basis für die Leistung ausgeklügelterer Modelle legen.
2. Vorsicht bei der Anwendung von KI auf “low frequency data”: Die im Controlling häufig angewendeten KI-Modelle brauchen Daten und Informationen in hoher Frequenz (“high frequency data”). Es besteht sonst die Gefahr, dass die neuronalen Netze die Daten auswendig lernen, anstatt die Beziehung der Daten zu verstehen. Etablierte Arima-Modelle nutzen Daten in zu niedriger Frequenz, um sie für die Auswertung mit KI zu verwenden. Daher: Finger weg von “low frequency data” in Kombination mit neuronalen Netzen!.
3. Technologie alleine reicht nicht – Hintergrundwissen ist unabdingbar: Inzwischen existieren unzählige Modelle (und Firmen), die perfekte Forecasting-Systeme versprechen. Diesen Systemen liegen teilweise ausgeklügelte Modelle zugrunde, die jedoch ohne das entsprechende Hintergrundwissen sehr gefährlich sein können. So neigen manche Modelle sehr stark zum Herstellen von Zusammenhängen, die nicht existieren. Ohne entsprechendes Hintergrundwissen lässt sich dies kaum erkennen. In den richtigen Händen und mit dem passenden Knowledge können diese jedoch sehr mächtige Werkzeuge bei der Erkennung wichtiger Kausalitäten sein.
4. Backtests der letzten Jahre immer kritisch hinterfragen: Seit 2008 leben wir in einer recht stabilen Finanzlage mit stetig steigenden Kursen. Dies kann man als eine besondere Marktsituation beschreiben. Bei der Entwicklung und dem Test von neuen KI-Modellen sollte man insbesondere auf die Ausgewogenheit der Daten bspw. für den sogenannten Backtest achten. Denn die vergangenen zehn Jahre im Finanzsektor waren außergewöhnlich und könnten die künstliche Intelligenz zu schlechten Empfehlungen verleiten.
5. Keine Hilfe bei Schocks: 2008 hat gezeigt, dass bestimmte Modelle relativ gut durch die Krise manövrieren konnten – insbesondere bezogen auf das Alpha, die Überrendite gegenüber dem Markt. Ein Grund dafür lag in der kontinuierlich ansteigenden Volatilität des Sommers 2007. “Value at risk”-Modelle gehörten dazu. Entgegen der populären Meinung, tun sich jedoch auch die ausgefeiltesten KI-Modelle schwer mit der Vorhersage von Schocks. Häufig reagieren KI-Modelle darauf gar mit stärkeren Änderungen als es in der Situation angemessen wäre.
Was raten Sie insbesondere Controllern?
Ebener: Haben Sie keine Angst vor KI-Systemen! Nutzen Sie diese als zusätzliches Medium. Finanzen sind immer schwer vorherzusagen, selbst mit KI.
Zu bedenken geben möchte ich, dass es bei Financial Forecasts besondere Herausforderungen gibt. Die Problematik ist komplett anders gelagert als beispielsweise bei der Bilddatenanalyse. Hierbei sind die Daten zwischen Training und Test relativ ähnlich (Katzenbilder beinhalten Katzen). Im Finanzsektor können zukünftige Ereignisse völlig andere Verteilungen der Daten aufweisen. Hier nutzt man unter anderem die "walk forward”-Methode, die wiederum Annahmen über die zukünftige Verteilung macht und damit Einbußen in der Genauigkeit akzeptiert. 56 Prozent Genauigkeit sind daher das Maximum für Financial Forecasts gegenüber 99 Prozent in Bildanalyse.
Forecasting hat zudem eine besondere Herausforderung: Die Zukunft ist ungewiss und dennoch muss heute eine Handelsentscheidung getroffen werden. Die vorliegenden Informationen sind oft minimal und zeitgleich ändert sich die Datenverteilung. “Reinforcement learning”, eine Form des maschinellen Lernens, befasst sich mit dieser mehrdimensionalen Problemstellung und könnte in der Zukunft helfen, bessere Modelle bereitzustellen.
Über Dr. Stefan Ebener
Dr. Stefan Ebener leitet als Manager Customer Engineering für Google Cloud ein internationales Machine Learning- und KI-Expertenteam. Seine Leidenschaft gilt den datengetriebenen Zukunftstechnologien und der Weiterentwicklung von Technologiekompetenzen in Unternehmen und Gesellschaft zu dem er regelmäßig als Keynote-Speaker auftritt.
Darüber hinaus ist er freiberuflicher Dozent der Wirtschaftsinformatik und beschäftigt sich neben ML, KI und Big Data mit dem Thema „Opinion Leader Identification & Management“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Metadaten- und Text-Mining, Machine Learning sowie der Wettbewerbs- und Ausschreibungsanalyse.
Als ausgebildeter Data Scientist verfügt er über praktische Erfahrungen im Aufbau von Data Pipelines sowie der Modellentwicklung. Ebener engagiert sich darüber hinaus im Forschungsbereich „Business Analytics“ im IFID, dem Institut für IT-Management & Digitalisierung an der Hochschule für Oekonomie & Management.